Eine Frage der Perspektive

Die Corona Warn App soll einen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie leisten. Aber was heißt das überhaupt? Und wie ist der Beitrag der App zu bewerten?

Das ELISA-Projekt nimmt sich diesen und anderen Fragen aus ethischer Perspektive an. Dabei zeigt sich: Dies ist keineswegs einfach zu beantworten. In den letzten Tagen haben wir viele interessierte Nachfragen zu diesem Thema erhalten. Einige davon möchten wir an dieser Stelle beantworten.

Die öffentliche Meinung zur vom Robert-Koch-Institut (RKI) in Zusammenarbeit mit SAP und der Deutschen Telekom entwickelten App ist in Deutschland nach wie vor geteilt: Die einen sehen in ihr eine Chance, die Pandemie zu kontrollieren und einzudämmen, die anderen sehen Risiken in puncto Datenschutz, Privatsphäre, Selbstbestimmung. Diese Skepsis spiegeln auch die Downloadzahlen wider: 19,3 Millionen Menschen haben die App heruntergeladen (Stand: 16. Oktober 2020, Quelle: RKI). Die Nutzung der App ist in Deutschland freiwillig; jedoch sind hohe Nutzungszahlen Voraussetzung für ihre Funktion. Laut Schätzung der Universität Oxford müssten 60 Prozent der Bevölkerung die App nutzen, damit sie einen substanziellen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie leisten kann (Ferretti et al. 2020). Doch wie kann man das erreichen, ohne den selbstbestimmten Umgang des Einzelnen mit der App einzuschränken?

Was genau bedeutet dieser Prozentsatz von Nutzer*innen aus ethischer Perspektive?

In einer ersten Rechnung haben die Kolleg*innen aus Oxford anhand einer Modellpopulation von etwa 1 Mio. Individuen zeigen können, dass eine Nutzungsrate von ca. 60% innerhalb der Bevölkerung eine Pandemie unter bestimmten Umständen zum Erliegen bringen kann (Ferretti et al. 2020). Das wäre sicher ein substantieller Beitrag zur Eindämmung der Pandemie und wünschenswert.

Heißt das nun, dass die Technologie keinen Effekt hat, wenn weniger Menschen sie verwenden?

Die Forscher*innen aus Oxford haben sich gegen diese Interpretation ihrer Zahlen gewandt und in einer zweiten Studie dargelegt, dass dies nicht der Fall ist. Sie konnten zeigen, dass bereits ein niedriger zweistelliger Prozentsatz von Nutzer*innen ausreicht, um Ansteckungen zu verhindern (Abueg et al. 2020).

Wie kann man dann sagen, dass hohe Nutzungszahlen Voraussetzung für einen substantiellen Beitrag der App zur Bekämpfung der Pandemie sind?

Was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, ist ein Frage der Perspektive. Betrachtet man das einzelne Individuum, dann sind der Schutz der Gesundheit jedes Einzelnen und die Vermeidung von Krankheit und Leid wünschenswerte Ziele. Schon die Vermeidung einer einzelnen Infektion ist aus dieser Sicht ethisch relevant und wünschenswert. Betrachtet man dies jedoch aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, dann kommen andere Werte ins Spiel, die es zu berücksichtigen gilt. Dies sind z.B. gemeinschaftliche Güter: Ein funktionierendes Gesundheitssystem, die Möglichkeit von gesellschaftlichem Kontakt und Austausch, Teilhabe an demokratischen Austauschprozessen und der solidarische Schutz besonders gefährdeter Gruppen. Aus dieser Perspektive gilt weiterhin, dass hohe Nutzungszahlen Voraussetzung für einen substantiellen Beitrag sind. Je mehr Nutzer*innen, desto besser!

Tracking, tracing oder Livetracking

Im alltagssprachlichen Gebrauch werden die Begriffe „tracking“ und „tracing“ oft synonym verwendet. Im Deutschen würde man vielleicht in beiden Fällen eher von „Nachverfolgung“ bzw. „Kontaktnachverfolgung“ sprechen. Technisch gesehen gibt es zwischen Tracking, Livetracking und Tracing Unterschiede. Tracking meint hier eher das synchrone Verfolgen, z.B. GPS-Daten-Basiert. Tracing das zeitlich versetzte Nachvollziehen von Kontakten.

Die Frage, ob es sich bei der Corona-Warn App um eine Tracking oder Tracing App handelt, ist aber nicht so einfach zu beantworten und hängt auch damit zusammen, auf welche Kernfunktionen man fokussiert. Die App sammelt die Daten über die Kontakte zwischen Nutzer*innen bei bestimmten Kontakten und zeichnet diese zeitnah auf. Das ist ein Element des Trackings. Sie stellt ihren Nutzer*innen diese Daten aber nicht zur Verfügung, sondern nutzt diese Daten im Falle eines positiven Testergebnisses zum retrospektiven Abgleich und informiert dann. Das entspricht eher einem Tracing-Element.

Das Projekt ELISA spricht von „Livetracking“, weil es darauf abzielt, am Beispiel der Corona-Warn-App einen Status Quo im Bereich der applikationsbasierten Gesundheitstechnologien zu explorieren und für diesen allgemeine Richtlinien und Handlungsempfehlungen zu erarbeiten. Viele von diesen Applikationen basieren auf Tracking- als auch Tracing-Technologien und rufen etwa BLE- oder GPS-Daten ab, wie z.B. verschiedene Laufprogramme für Wearables. Vor diesem Hintergrund stehen zwar Fragen wie Datenschutz und der Umgang mit personenbezogenen Daten am Beispiel der CWA im Fokus der Studie: Die erarbeiteten Handlungsempfehlungen und Bewertungskriterien richten sich aber gleichfalls an andere Applikationen.

Literatur

Abueg, Matthew; Hinch, Robert; Wu, Neo; Liu, Luyang; Probert, William J. M.; Wu, Austin et al. (2020): Modeling the combined effect of digital exposure notification and non-pharmaceutical interventions on the COVID-19 epidemic in Washington state. DOI: 10.1101/2020.08.29.20184135 (preprint)

Ferretti, Luca; Wymant, Chris; Kendall, Michelle; Zhao, Lele; Nurtay, Anel; Abeler-Dörner, Lucie et al. (2020): Quantifying SARS-CoV-2 transmission suggests epidemic control with digital contact tracing. In: Science 368 (6491). DOI: 10.1126/science.abb6936 .


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Letzte Änderung: 10.07.2020 | Ansprechpartner/in: Inhalt & Technik